Stephan Leibfried im Gespräch

Stephan Leibfried im Gespräch

Stephan Leibfried war 2006 bis 2015 Mitglied im Kuratorium und im wissenschaftlichen Beirat des WZB. Nach prononcierter Kritik in der Gründungsphase des WZB wurde der Bremer Sozialwissenschaftler zum engen Freund und Berater. Stephan Leibfried ist am 28. März 2018 gestorben.

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Das komplette Interview vom 8. Juni 2017 als Transkript

 Gabriele Kammerer: Herr Leibfried, Sie hätten sich vielleicht vor knapp 50 Jahren nicht träumen lassen, dass Sie hier mal quasi als Ehrengast eingeladen werden ins WZB. Es gab damals erbitterte Auseinandersetzungen um die Gründung dieser Institution, Sie waren ein profilierter Gegner. Was waren denn Ihre Gründe, was hat Sie damals so erbost?

Stephan Leibfried: Na ja, zunächst mal hätte ich mir nicht träumen lassen, überhaupt noch zu leben mit 73. Mein Vater ist in den 60er, frühen 60er Jahren gestorben, von daher sind das verschiedenste Träume, die da aufeinandertreffen. Das WZB in seiner Gründung hatte keine reale Existenz, es war eine Bonner Sprechblase, vielleicht auch noch eine Berliner Sprechblase, und es kam aus dem Dunklen ins Helle. Man sah nicht viel, man sah vielleicht eine Presseerklärung, man sah eine Satzung im Handelsregister, eine GmbH, nicht grad die typische Wissenschaftsform – obwohl, wenn man in der Wissenschaftsgeschichte der Bundesrepublik zurückguckt, gibt’s viele solche GmbHs, insbesondere was Bundesgründungen angeht, jedenfalls uns in den End-60er-Jahren erschien das nicht die typische Wissenschaftsform zu sein, plus es hatte im Grunde keinen Inhalt außer den Anspruch, was Großes zu tun, exzellente Wissenschaft, Sozialwissenschaft nach Berlin zu bringen. Es gab aber eigentlich kein ausgearbeitetes Programm zu dem Zeitpunkt, wo es publik wurde. Es war also ein leeres Gebilde, das jeder mit Inhalt füllen konnte, wie er wollte. Und die Zeiten in Berlin … Zwei Jahre vorher war Ohnesorg erschossen worden, die Stadt selber war nicht grade die liberalste Stadt des Westens, um es mal freundlich zu sagen, die politische Kultur Berlins, trotz, muss man sagen, Bürgermeister Albertz war auch nicht grade so systematisch liberal, so dass für Spekulationen aus allen Richtungen alle Türen offen standen und es wurde auch nicht gemildert durch irgendwas. Es kam dann nicht am nächsten Tag oder vier Wochen später ein Plan, es kam gar nichts. Gut. Und das kam in diese umkämpfte Atmosphäre hinein, wo sich die zwei Westberliner Universitäten vom Präsidenten abwärts oder von den Studenten aufwärts, wie man’s sagen will, sowieso nicht so richtig, mehr als Stiefkinder fühlten.

Wissen Sie denn noch konkret, wie Sie von diesem Plan WZB erfahren haben?

Ehrlich gesagt, 50 Jahre ist lange her. Das Konkreteste, an das ich mich erinnere, ist, dass ich ins Handelsregister gegangen bin, um die GmbH-Satzung rauszufinden, und das war das erste überhaupt Fassbare, was nicht einfach nur Public Relations war und irgendwie einen Inhalt hatte, wenn der Inhalt auch sehr kursorisch war. Die Satzung war auch nicht sehr lang. Und in meiner Erinnerung kamen Inhalte, richtige Inhalte, erst zwei, drei Jahre später.

Aber es war ja trotzdem ein sehr politischer oder politisch aufgeladener Protest, der dann gegen diese Planungen stattfand, da war dann von Kapitalisten die Rede und von Kriegsforschern und Kriegstreibern, von Ausbeutern.

Na ja, Sie haben eine Situation, die ist sowieso aufgeladen, durch Auseinandersetzung um Universitäten und mit Studenten in der Stadt um einen Krieg, der nicht in Deutschland stattfindet, sondern ganz woanders von den Amerikanern geführt wird, und Sie haben eine Situation, wo das ganze System zu 80, 90 Prozent öffentlich ist, und sofern es nicht öffentlich ist, wie Max Planck usw., ist es akzeptiert und öffentlich finanziert. Also es ist zwar auch privat organisiert, aber in der damaligen Situation hat man das als quasi öffentlich gesehen. Und dann kommt plötzlich einer mit einer „GmbH-Universität“ daher und sagt nicht, was er da reintun will, sagt irgendwas von Amerika, von Exzellenz und super und im Übrigen hüllt er sich in Schweigen. Und Geld soll öffentlich sein, Bonn/ Berlin. Soviel wusste man. Und man will was für die Frontstadt Berlin tun. Das ist ungefähr die Information, die Sie haben in dieser Atmosphäre. Na ja, dann entscheiden Sie sich entweder dafür zu sagen, das Ganze wird ein Altherrenclub und Country Club und lasst es links liegen, es ist uninteressant, oder Sie entscheiden sich dafür zu sagen, das Ganze ist eine Gegenuniversität mit der ausländischen Hand darin, und dann tun Sie noch ein bisschen Kapitalismus dazu und GmbH ist da auch nicht ganz unschädlich, und dann haben Sie ungefähr das Szenario. Und die Zeiten waren alle verschwörungstheoretisch. Also dass die eine Seite was Gutes meinen könnte, aber nicht genau weiß, wie sie es anstellt, hat keiner unterstellt, weder die Präsidialämter noch sonst jemand. Und alles findet in dunklen Räumen statt, wo keiner genau weiß, was der andere tut und jeder im Zweifel das Schlimmste vermutet. So ungefähr war die Atmosphäre. Und dann hat sich die Entwicklung halt sozusagen … Schlagzeile „GmbH-Universität für die Mandarine der Zukunft“. Man nahm das Schlechteste einerseits an, GmbH-Universität, andererseits, wenn man so will, das Beste, nämlich die leisten echt was. Man hätte ja auch das Gegenteil annehmen können, ja.

Ja eben, es muss ja ein gewisses Erregungspotenzial durchaus gegeben haben oder vielleicht auch ein Bedrohungsgefühl, so dass Sie als Studierende tatsächlich das Gefühl hatten, da müssen wir uns dagegen wehren? Also wenn ich mir eben die Zeit vorstelle, denke ich, es gab doch größere Themen, die da im Schwange waren, man hat gegen den Krieg in Vietnam demonstriert, man hat sich mit den Notstandsgesetzen auseinandergesetzt. Und dann kam da irgend so ein relativ blumiges Projekt um die Ecke, und trotzdem haben Sie und andere da viel Energie investiert. Woher kam das?

Ich bin jetzt im Geschäft der nachträglichen Interpretation. Hätten Sie mich damals interviewt, hätte ich Ihnen vielleicht andere Sachen erzählt und auch noch gewusst, aber eine Sache, die damals ja schon so zu fühlen und in der politischen Diskussion zu sehen war, ist ein langsamer Austrocknungsprozess der Universitäten durch Externalisierung von Forschung. Das lief ja schon immer. Nur sonst läuft es im ersten und zweiten Gang, es schien da im dritten oder vierten Gang zu laufen. Und das war jetzt nichts Berlinerisches, das war in der gesamten Republik so und hat auch ganz unterschiedliche Gründe, das hängt nicht unbedingt nur mit den erhitzten Zeiten zusammen. Dann schaltet man wahrscheinlich als Gegenüber sofort auch in einen höheren oder einen noch höheren Gang, um das zu verhindern. So haben die Universitätspräsidenten reagiert, weil die sahen Auswanderungsgefahren in Bereichen, die noch ganz universitär waren, also Sozialwissenschaften im weitesten Sinne war ja nicht grade hochgradig Max-Planck- verdächtig und auch nicht Fraunhofer- und Helmholtz- und wie sie heute heißen, verdächtig. Hätte jemand gesagt, wir wollen ein großes Zentralinstitut an der Freien Universität gründen, ein neues oder eins noch an der TU, wegen mir Stadtökologie oder weiß ich was, wäre diese Gesprächssituation gleich eine andere gewesen, aber es waren Universitäten, die eher um ihr Budget kämpften und eher zurückgeschnitten wurden, und es waren Landschaften, in denen außeruniversitäre Forschungsinstitutionen eher wuchsen. Das ist dann automatisch eine schiefe Ebene.

War es für Sie auch ein Thema, dass hier Forschung ohne Lehre geplant war?

Ja, das spielte auch schon eine Rolle, aber zwieschlächtig. Einerseits macht ihr aus der Universität nichts und zwingt die Leute zu Lehrlasten, die etwa im amerikanischen Raum ungewöhnlich hoch sind, wenn man eine Research University sein will, ergo kann aus der Forschung auch nichts werden, andererseits schafft ihr oder möchtet ihr schaffen, das war ja alles noch wie gesagt völlig Null Inhalt da in der ‘69er Situation, privilegierte Situationen, wo Leute nichts anderes können als forschen und sich vielleicht nach ein bisschen Lehre sehnen. Und das zweite Element in dem Ganzen war dann: Wie nehme ich diese Hochschullehre am WZB von studentischer Kritik aus oder halte sie davon fern oder schaffe beruhigte Räume.

Es ging also am Anfang in der Kritik sehr stark um Formen und Formate und nicht eigentlich um Inhalte?

Es waren ja nur Formen und Formate öffentlich sichtbar. Hätte irgendjemand aus Bonn oder irgendjemand aus Berlin, das kann man beiden Seiten vorwerfen, natürlich den Gründern noch ein bisschen mehr als den andern, irgendwas Inhaltliches vorgegeben und hätte gesagt, wir machen sechs Institute und die machen wir zu folgenden Themen und die besetzen wir wie folgt, dann wäre das gleich eine andere Diskussion gewesen, aber das kam erst drei, vier Jahre später oder einige Jahre später, also jedenfalls nicht in dem Konflikt.

Sie haben ja dann dieses Haus und seine Entwicklung weiter begleitet und verfolgt. Wann haben Sie denn dann einen klareren Eindruck davon bekommen, oder wann hat das Ganze klarere Konturen bekommen?

Ich will noch mal zurück vorher, bevor ich diese Frage beantworte. Also es hat dann erstmal dazu geführt, dass die Marburger Blätter, eine Studentenzeitschrift, ein Sonderheft gemacht haben, und das hieß glaube ich „Die GmbH-Universität für die Mandarine der Zukunft“, und da waren im Grunde die ganzen Dokumente drin, die man zu dem Zeitpunkt kannte, was nicht viel war, und im Übrigen war dann viel Spekulatius drin. Also später hat’s dann noch mal zu einem Buch über die Angepasste Universität geführt, wo ein Kapitel darüber drin ist. Also es war nicht nur was Berlinerisches, es war was, wo bundesweit drauf geguckt wurde, und es war auch ein bundesweiter Trend, der in Berlin seine spitzeste Form annahm. Also als die Max Planck-Gesellschaft dann in Köln ein Institut gegründet hat, das ist einige Zeit später gewesen, hat es überhaupt nichts gegeben, aber es war auch ein anderer Prozess, der gleich Namen hatte und eine etablierte Institution mit etablierten Verfahren. Aber jetzt zu Ihrer Frage, die weitere Entwicklung. Ja, die hat man von Ferne und von Nähe gesehen. Von Nähe insofern, als dann interessanterweise, was aber überhaupt nicht absehbar war, allerhand interessante Leute allerhand interessante Institute hier gründeten, Leute, die man vorher kannte, also die man gelesen hatte, mit denen man in Seminaren diskutiert hat in Konstanz oder wo man diskutiert hatte. Und in dem Maße, wie es sich konkretisierte, verwusch sich die Kritik oder war gar nicht mehr da, weiß nicht, kann ich nicht genau sagen, was dann der Prozess war. Ich kann aber auch nicht sagen, was zu was geführt hat, also ob z. B. die Kritik, die ‘69 da hochkam und dann noch ein bisschen weiter gehandhabt wurde, überhaupt erst dazu führte, dass aus dem Country Club was Ordentliches wurde, oder ob das immer schon die Absicht war, nur man hat falsch taktiert und hat das nicht irgendwie von Anfang an mit Ross und Reiter in die Welt gesetzt. Weiß ich nicht, aber ich vermute, dass etwas von beidem stimmt. Also die Vermutung speist sich bei mir dadurch, dass Herr Zapf relativ früh, schon bei der Gründung dabei war, und er macht eigentlich immer ordentliche Sachen, dass aber Herr Zapf nicht der einzige Gründer war, sondern dass es ein ganzes Umfeld von Leuten waren, die vielleicht noch andere Zwecke verfolgt haben und dass sich das im Laufe der Zeit so zurechtgerüttelt hat, dass es das wurde, was es wurde.

Aber es ging ja jedenfalls ziemlich schnell, dass das öffentliche Bild ein ganz anderes wurde, also im Anfang sehr angefeindet gerade von – ich sage es jetzt mal etwas platt – linken Studierenden als kapitalistisches Unterfangen, sie ist viel zu sehr marktwirtschaftlich orientiert, und zehn Jahre später war das hier dann schon ein rotes Haus und eine Kaderschmiede und wurde ja lange dann diesen Ruf nicht los, dass das viel zu links ist.

Wenn Sie jemand ‘69 gefragt hätten, dann hätte man gedacht, das würde im besten Falle lauter konservative Sozialwissenschaftler Gehlen’scher, Schelsky’scher, sonstiger Prägung werden und sonst nichts. Das wäre der beste Fall gewesen, dann hätte es wenigstens noch Inhalt gehabt, also kein Country Club. Das Gegenteil ist aber eigentlich der Fall gewesen: Es wurden eigentlich lauter relativ aufgeschlossene liberale Gegen-den-Strom-Schwimmer in den jeweiligen Unterdisziplinen oder Disziplinen genommen nach dem Motto, versucht doch mal was Neues aufzubauen. „Rote Kaderschmiede“, so war es ja nicht, aber in dem Klima Berlins, in dem es gegründet wurde, kann ich mir gut vorstellen, dass das schnell so etikettiert wurde. Das ist jedenfalls nicht das, was man gewollt hat, nämlich einen liberalen Think Tank, der zwischen den Unis steht, aber beide Unis versucht zu mobilisieren.

Lassen Sie uns noch ein bisschen auf den Stephan Leibfried blicken, der das WZB über die Jahrzehnte in unterschiedlicher Funktion begleitet hat. Sie waren bis vor wenigen Jahren mehrere Jahre im Beirat des WZB, haben angefangen, wir haben jetzt grade drüber gesprochen, als erbitterter Kritiker. Sie waren damals Student einer anspruchsvollen Doppelkombination, wenn ich das richtig sehe, Jura und Politikwissenschaften – oder war das nacheinander?

Nee, das war ineinander. Jura repräsentierte das Ordentliche und Politikwissenschaft das, was mich eigentlich interessierte. Das war die eine Seite, und die andere Seite war, dass das Politikwissenschaftsstudium mich irgendwie dem, was ich eigentlich dachte studieren zu wollen, nicht so nah gebracht hat, also es gab bei mir begrenztes Interesse am Mittellandkanal und den Übungen dazu, und während die staatsrechtlichen Vorlesungen und die öffentlich-rechtlichen Vorlesungen mir alle sozusagen the nerves of government zu betreffen schienen. Deswegen habe ich gedacht: Ich studiere eigentlich da Politikwissenschaft, wo ich Jura studiere, und war dann hauptsächlich im öffentlichen Recht zugange. Das Ganze spielt sich ab vor meinem ersten Staatsexamen, ‘71 war das glaube ich, und ‘74 das zweite, und dann bin ich nach Bremen gegangen. Mein erster richtiger systematischer Kontakt mit dem WZB war dann, dass man mich für ein Jahr als Gastprofessor berufen hat, und zwar in die Abteilung von Egon Matzner, bei den Ökonomen, auch interessant. Da hätte ich mich nicht erwartet ‘69. Ein Jahr lang saß ich dann hier und habe im Wesentlichen einen Antrag für die Volkswagenstiftung geschrieben, mit dem das Zentrum für Sozialpolitik in Bremen gegründet wurde und habe im Übrigen mit Gosta Esping-Andersen Tischtennis gespielt und mich umgeguckt, was aus dem WZB geworden ist eben durch alle Abteilungen.

Das war dann in den 1980ern?

Muss wohl. Es war jedenfalls vor der Wiedervereinigung, ergo in den 80ern, vielleicht sogar End-70er. Es war noch dieses Reichsministerialgebäude am Flughafen Tempelhof, also von diesem Gebäude keine Spur. Und dann kam die Sache mit dem Kuratorium oder Beirat, erst Kuratorium und dann lange im Beirat.

Und die Frage nach guten Formen für Wissenschaft, nach Gestaltung von Räumen für Wissenschaft zieht sich ja da eigentlich ganz durch. Auch in Bremen das Zentrum für Sozialpolitik, das ja schon ähnlich scheint wie das, was hier das WZB so macht.

Na ja, man muss leider sagen: gemacht hat. Sozialpolitik ist nicht mehr so das Schwerpunktthema – und Sozialpolitik ist ein Riesentanker. Die Hälfte unseres Staatswesens sind die Sozialausgaben, rein finanziell gesprochen, 53 Prozent im Jahr 2015, das ist mehr, als was eine Uni beschäftigen könnte. Wenn Sie wollen, könnten Sie sagen, die ganze Bundesrepublik hat sich WZB-artig entwickelt. Schauen Sie sich die Exzellenzinitiative an, schauen Sie sich verschiedenste Gründungen in Universitäten an, die heißen nicht alle Zentralinstitute, aber die ganze Exzellenzinitiative hat im Grunde WZB-Formate an die Uni gebracht, an alle Disziplinen, nicht nur an die sozialwissenschaftlichen. Das Zentrum für Sozialpolitik ist so ein ähnliches Format, aber eben nur zu einem Thema. Also von daher hat mich das Thema WZB in Anführungsstrichen, nämlich: Wie organisiert man Forschung, die nicht allein Privatgelehrten-Existenzen verfasst, aber auch mit verfasst? Das hat mich immer weiter begleitet, sei es über SFB-Gründungen in Bremen, sei es davor über dieses Zentrum für Sozialpolitiks-Gründung, sei es über diese Arbeitsgruppe in der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften zur Exzellenzinitiative. Von daher hängen die Themen schon zusammen.

Was ist das WZB-Förmige, wo sich alles hin entwickelt hat?

Das eine WZB-Förmige ist: Einen traditionellen Lehrstuhl den denkt man sich über einen Privatgelehrten in Räumen wie diesen mit vielleicht ein, zwei Mitarbeitern, und dann bildet er vielleicht Schulen und setzt sich an anderen Universitäten über Habilitanden und Professuren fort und Schluss ist. Dass da jetzt größere Formate kämen, dass da größere empirische Projekte stattfänden, dass da gar vielleicht so à la Karl Ulrich Mayer über Jahrzehnte irgendwelchen Kohorten nachgegangen wird und deren Entwicklungen, was schon von der Natur der Sache her ein Großunternehmen ist, was man dann teils externalisiert an Erhebungsinstitute – das ist alles nicht vorgesehen, aber jetzt ist das, na man kann nicht sagen Routine, aber auf dem Klavier sind es jetzt vielleicht ein Fünftel der Tasten.

Verringert das die Existenzberechtigung des WZB?

Na ja, ich weiß ja nicht, ob man Exzellenz steigern kann, aber es verschiebt Beweislasten. Also man ist sagen wir mal ab den Mitt-70er Jahren, wo das Ding voll stand, war man noch ein Unikat, einfach so, während jetzt ist man an verschiedensten Punkten mit Alternativen konfrontiert, denen gegenüber man mindestens so gut, wenn nicht besser, dastehen muss. Also von daher ändert es schon die Situation des WZB. Aber aus meiner Beiratserfahrung weiß das das WZB. Also von daher muss ich das nicht predigen, das ist bekannt.

Und wenn wir jetzt vielleicht nicht 50 Jahre, aber 20 vorausblicken, wo sehen Sie dann das WZB?

Wenn ich das wüsste. Es hängt sehr viel von Dingen ab, die in den Sternen stehen. Also angenommen der Bund zieht die natürliche Konsequenz aus der Exzellenzinitiative, nämlich von seinen 43 Clustern alle fünf  bis zehn Jahre vier bis zehn zu verstetigen, statt ganze Unis zu fördern, wo man nie sagen kann, was exzellent ist, sondern immer nur auf Durchschnitte blickt. Dann würde der Unikatscharakter des WZB auch in den Sozialwissenschaften kleiner werden, weil es früher oder später auch sozialwissenschaftliche Cluster dieser Art in den Universitäten geben wird, die auf Dauer in größeren Formaten arbeiten. Wenn der Bund, was jetzt im Augenblick so der Fall zu sein scheint, eher darauf zielt, drei Humboldt-Unis bundesweit zu fördern, egal welche das nun sind oder vielleicht 5, aber nicht auf Themen setzt und dann der Uni plenar die Mittel gibt, 20 Millionen, 50 Millionen, was es auch immer ist, dann ist die Spannungslage gemildert. Sie ist nicht weg, aber sie ist gemildert. Man muss aber vielleicht auch ein bisschen in die Welt gucken. Also gucken Sie mal Departments an, nehmen wir mal die 10, 12 oder 15 oder 40, ich glaube es sind 40, Research Universities in den USA, nehmen wir mal die Top 15 und gucken uns da mal Departments an für Soziologie, Politikwissenschaft, für Ökonomie und sonst was, und gucken uns an, in welcher Massivität die präsent sind, also da wird kein Department unter 40 Professoren in der Politikwissenschaft sein. Gucken wir nur mal auf Oxford, die sitzen da zu 100 und gut, der Unterbau ist schwächer, erheblich schwächer. Dennoch, das macht auch die ganze Exzellenzinitiative in Deutschland vermessen. Wir bauen sozusagen Rieseneichen auf Dachgärten, also irgendwas stimmt in der Struktur nicht.

Denken Sie denn, wenn ich Sie jetzt so das beschreiben höre, dass es wieder mehr politisches Interesse so wie damals zu Zeiten der Gründung des WZB geben müsste an bildungs- und hochschulpolitischen Fragen? Zurzeit geht da ja niemand auf die Straße.

Also müsste, sollte, könnte. Sagen wir mal so, im Vergleich zu der damaligen Zeit ist es heute ein Massenthema, wenn wir mal angucken, wie viel eines Jahrgangs an Universitäten geht. Damals war es am Kippen zu einem Massenthema, aber es war vielleicht die Hälfte der heutigen Kohorte, die da an Universitäten ging. Zugleich … also die Universität war immer ein Gebilde, das zu einem guten Prozentsatz aus intellektuellem Interesse bestand bei Hochschullehrern wie Studenten und zu einem guten Teil auch Fachschule oder Fachhochschule war. Also ich will keine Prozentzahlen sagen, aber am besten macht es sich noch fest an dem Umstand, dass, wenn Sie in die 50er Jahre gehen, noch ein Großteil der Studenten alle zwei Semester von Uni zu Uni wanderte und dahin ging, wo es interessant war, also wo interessante Vorlesungen waren, wo die Hochschullehrer interessant waren, und je mehr man voranschritt, je mehr Überblick hatte man, und da wanderte man weiter. Wenn Sie heute gucken, sind die Wanderungseffekte zwischen Hochschulen ziemlich gering geworden, und die Studienstruktur ist auch so komprimiert, dass Wanderung bestraft wird. Von daher ändert sich der Ort der Studenten im Wissenschaftssystem, ändert sich die Freiheit. Auch in meiner Zeit kriegten Sie die noch so halb gratis oder dreiviertel gratis. Also Sie konnten eigentlich machen, was Sie wollten, wenn es Sie interessierte. Und das tötet nicht nur den Protest, das tötet auch das Interesse. Andererseits, es gibt viele Seiten, also nicht nur eine, auch andere, andererseits müsste eigentlich das öffentliche Interesse, das Interesse des Staates an diesem System wachsen, zumal in einem Land, dessen ganzes Wirtschaftssystem immer mehr mit an der Qualität des Wissenschaftssystems hängt. Schauen Sie sich mal fünf Generationen von Wissenschaftspolitikern an, oder acht seit den 50er Jahren. Auch da habe ich nicht den Eindruck, als ob wir jetzt im Vergleich aus der Fülle schöpften, wenn Sie die Wissenschaftsausschüsse angucken, wenn Sie die Wissenschaftsminister angucken. Was ich auch interessant finde ist und nicht verstehe ist, dass wir viele falsche Konflikte kämpfen. Also wir kämpfen zum Beispiel Konflikte um Studiengebühren. Wenn ich mir angucke, wer an die Universität geht, dann ist die in Anführungsstrichen weniger gut bestallte Hälfte der Bevölkerung immer noch diejenige, die nicht auf die Universität geht im Vergleich zu denen, die gehen, ja ergo begünstigen die Nicht-Studiengebühren die besser bestallte Hälfte der Bevölkerung. Warum ist es dann so ein Tabuthema? Es ist fast das einzige Großthema, und warum ist es das einzige Großthema? Das verstehe ich nicht. Und warum ist es auch noch seitenverkehrt, das Großthema, warum sind die Sozialdemokraten, die angeblich systematisch für Umverteilung einstehen, diejenigen, die geradezu die Todesstrafe auf dieses Thema setzen, während die CDU darüber noch mit sich reden lässt, die FDP sowieso. Es gibt doch Studiengebührensysteme, die systematisch erstens die schlechter bestallte Hälfte ausnehmen und zweitens sie sogar daraus finanzieren, könnte man ja machen! Das wäre ja eigentlich das System, wo man denkt, das passt am besten zur deutschen Situation. Haben wir aber nicht.

Wir kommen da jetzt in ein ganz weites Feld der Bildungspolitik. Vielleicht noch mal konkret zurück zum WZB, auch ganz konkret physisch zurück. Wenn Sie hier sind, wo halten Sie sich denn gerne auf? gibt es Lieblingsorte im Haus?

Also am liebsten in dem alten Teil, also in diesem Reichsversicherungsamtsgebäude, was aber damit zu tun hat, dass das im Grunde das Gebäude des Vorläufers des Bundessozialgerichts ist oder das Gebäude des Vorläufers des Watchdogs des Sozialstaats und damit meines Lebensthemas. Und dann oben in dem Saal, der der Spruchsaal war und unterhalb des Dachgartens, der ja einzigartig in Berlin gewesen sein soll. Wobei mir diese alten Teile ohnehin immer eher gefallen, weil sie viel großzügiger und viel mehr von Formwillen irgendwie erfasst sind als vieles von dem, was wir in den 50er Jahren gebaut haben, obwohl ich zugeben muss nach dem Film, den ich da gesehen habe, über dieses Gebäude [Leibfried meint den Interview-Film über Michael Wilford, den Ko-Architekten des WZB], macht man sich auch ganze neue Gedanken über den neuen Teil. Außerdem bin ich ganz gerne im Garten. Das liegt auch an den Gartenfesten.

Sie haben es ja schon angesprochen, Sie haben so ein bisschen ein kleines Spezialforschungsthema, das ist der Dachgarten, den es hier mal gegeben haben muss.

Na ja, der ist insofern Spezialforschungsthema, weil es ohne den dieses WZB nicht gäbe, denn in diesem Dachgarten sollen im Zweiten Weltkrieg Bomben gefallen sein, die durch die Erde im Dachgarten abgefedert wurden, so dass der Zünder nicht explodierte. Alle Gebäude rund ums WZB sind flach und weg und sind Neubauten oder Altbauten in neuer Manier, nur dieses eine Gebäude steht noch, und darin gibt es das WZB mit dieser Außenform. Also deswegen fand ich, wenn man 50-Jahres-Jubiläum feiert und das in einer Schale tut, die nur durch diesen Zufall überlebt, sollte man mal hingucken, was da war. Und wenn man dann noch in einem ökologischen Zeitalter lebt und sowieso neu baut, dann sollte man vielleicht in dem neuen Gebäude einen Dachgarten draufsetzen und im alten dann den Dachgarten wieder hinsetzen, zumal da noch Bienenstöcke drauf waren.

Es muss ja da, wo jetzt aufgestockt werden soll, tatsächlich auch einen Dachgarten gegeben haben, also auf dem E-Teil.

Dann wäre es doch umso schöner, wenn man den wieder herstellte. Ich glaube aber nicht, er ist ein Ersatz für den alten. Angeblich hatte der Präsident des Reichsversicherungsamts die zweitschönste Wohnung nach dem Reichskanzler oder vielleicht sogar eine schönere, denn die war oben in dem Vorstandstrakt jetzt, und sie hatte einen direkten Zugang zu einem Dachgarten, den hatte der Kanzler nicht, und eigene Bienenstöcke. Ich erinnere mich, einen Artikel gesehen zu haben, der in der Überschrift von den Hängenden Gärten von Berlin sprach, also eines der sieben Weltwunder übertragen in das Berlin der heutigen Zeit, und darin wird dann das Reichsversicherungsamt erwähnt. Da habe ich gedacht, na ja, also wenn es schon so ist, dann soll man was tun, aber sonst habe ich da keine größeren Motive, außer dass es eine interessante Facette eines Gebäudes ist, die eigentlich besser in die heutigen Zeiten als in die 50er oder 60er Jahre oder auch in die Gründungsjahre passt. Also die ökologische Wende ist ja etwas jüngeren Datums, aber keiner erinnert sich an das Dach.

Vielen Dank für diese und manch andere Erinnerungen.