Jürgen Kocka war 2001 bis 2007 Präsident des WZB. Im Anschluss hielt er die Forschungsprofessur „Historische Sozialwissenschaft“ am WZB.
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Das komplette Interview vom 14. November 2014 als Transkript
Gabriele Kammerer: Sie waren sieben Jahre lang Präsident des WZB, das ist jetzt wiederum sieben Jahre her. Wenn Sie heute auf das Haus blicken, was überwiegt denn? Hat sich mehr geändert, oder ist mehr gleich geblieben seit 2007?
Jürgen Kocka: Ich würde sagen, es gibt Kontinuität und Wandel in einer Mischung. Ich weiß nicht genau, wie es mit dem WZB im Einzelnen heute steht, aber für den von außen Draufsehenden überwiegt eigentlich die Kontinuität, das wunderschöne Gebäude, die Institution einer problemorientierten Grundlagenforschung, die große Chance, mit langem Atem und gleichzeitig auf neue Probleme eingehend Sozialwissenschaft zu treiben – das alles hält sich durch. Es gibt sicher inhaltliche Akzentverlagerungen und Neuansätze, auch manches Alte wird nicht fortgeführt, das ist normal. Den Wandel zu managen, das gehört zu den Aufgaben der Leitung eines solchen Unternehmens.
Wie hat denn Ihre Geschichte mit dem WZB begonnen? Erinnern Sie sich noch, wann Sie zum ersten Mal auf dieses Haus auf- merksam geworden sind?
Ich bin 1988 zurück nach Berlin gekommen, wo ich in den frühen 1960er Jahren studiert hatte, und hatte dann viel mit der Wiedervereinigung der Wissenschaften zwischen Ost und West zu tun im Jahre 1990/91. In diesem Zusammenhang habe ich die Institutionen der Wissenschaft hier kennengelernt und bekam auch Kontakt zu Herrn Zapf, der mich dann Anfang der 90er Jahre zunächst in den Wissenschaftlichen Beirat einlud und später ins Kuratorium, so dass ich das WZB gut kennenlernen konnte, bevor ich dann im Jahr 2000 gefragt wurde, ob ich Präsident werden würde.
Hat Sie das denn überrascht? Also von außen ist das ja durchaus überraschend: Ein Historiker tritt an die Spitze einer sozialwissenschaftlichen Einrichtung.
Ja, das hatte auch für mich ein Stück angenehme Überraschung, denn mein Arbeitsgebiet war doch nicht primär in den Sozialwissenschaften, und mein Arbeitsgebiet war auch nicht primär die Koordination und Leitung wissenschaftlicher Institutionen. Aber auf der einen Seite hatte ich immer eine Geschichtswissenschaft betrieben, die sehr auf die Kooperation mit den benachbarten Sozialwissenschaften setzte. Historische Sozialwissenschaft, so wurde die Richtung, für die ich mich einsetzte, manchmal genannt. Zum andern hatte ich als Permanent Fellow im Wissenschaftskolleg in den 90er Jahren und durch die nach der Wiedervereinigung anstehenden Arbeiten sehr viel mit institutionellen Fragen zu tun, und so freute ich mich, dass ich diese Chance bekam, etwas anderes zu machen, aber gleichzeitig doch Grundinteressen fortzusetzen, die ich auch vorher schon gehabt hatte.
Lassen Sie uns diese Grundinteressen genauer betrachten. Sie sind einer der Gründer der so genannten Bielefelder Schule, Sie haben die Sozialgeschichte stark gemacht. Was bedeutet das?
Das war eine Veränderung, ein Aufbruch in den späten 1960er und 70er Jahren, wo eine damals jüngere Generation von Historikern Neues wollte. Sie wollten die Gesellschaft, die sozialen und ökonomischen Prozesse stärker betonen als die große Politik, die traditionell im Vordergrund der Geschichtswissenschaft gestanden hatte, sie wollten Strukturen und Prozesse zum Gegenstand von historischer Untersuchung machen, mehr als Ereignisse oder Entscheidungen. Gleichzeitig wollten sie die sozialen Aufgaben der Geschichtswissenschaft ernst nehmen als einen Beitrag zur kritischen Aufklärung der Gesellschaft, in der sie betrieben wurde. Das versammelte sich unter dem Stichwort Sozialgeschichte, das wurde ein Kampfwort für eine Weile. Und Bielefeld wurde seit den frühen 1970er Jahren ein zentraler Ort für diese Bemühungen, aber auch in Berlin, wo ich studiert hatte, war das sehr stark in diese Richtung getrieben worden, unter anderem durch den Einfluss des einen oder anderen Emigranten, der in dieser Zeit Erfahrungen aus den USA einspeiste in die Diskussion. Insbesondere Hans Rosenberg ist hier zu nennen. Das Ganze war Teil der Bewegung, die wir mit dem Stichwort „68“ assoziieren, aber gleichzeitig viel mehr. Es gab eine lange Tradition in die 50er, 40er, 30er Jahre zurück. Vieles ist gelungen, vieles auch nicht. Die enge Zusammenarbeit mit den Sozialwissenschaften, mit der Soziologie, Politikwissenschaft, manchmal auch der Ökonomie war in diesen neuen Ansätzen zentral. Von daher hatte ich mich auch immer für jenen Bereich der Sozialwissenschaften interessiert, der selber an historischem Wandel interessiert war. Ich kannte zum Beispiel die Arbeiten von Wolfgang Zapf und Friedhelm Neidhardt auf diesem Gebiet einigermaßen.
Wie hat man sich denn diese Zusammenarbeit vorzustellen? Ist es gelungen, in der Geschichtswissenschaft auch Methoden aus den Sozialwissenschaften aufzugreifen? Hat etwas stattgefunden, das man als gelungene Interdisziplinarität bezeichnen könnte?
Ein Stück weit. Was die Methoden angeht, haben wir in den 60er und 70er Jahren sehr viel mehr als in vorangehenden Jahrzehnten, sehr viel mehr auch als heute, quantifizierende statistische Methoden verwendet und Massenquellen erforscht wie Kirchenbücher oder Wahldaten oder Wirtschaftsdaten anderer Art. Ein anderer Beitrag der Sozialwissenschaften für uns als Historiker ist auf dem Gebiet der Begriffsbildung, der Hypothesen und Theorieangebote zu sehen. Der Klassenbegriff konnte nützlich sein für die Geschichte der Arbeiter und der Bürger oder einer ganzen Gesellschaft; die Theorien über Bürokratie und Verwaltung haben wir gelesen, wenn wir selber die Geschichte einer Industriebürokratie oder einer öffentlichen Verwaltung geschrieben haben. Also sowohl methodisch als auch begrifflich-theoretisch gab es in meiner Historikergruppe viel Interesse an dem, was bei den Nachbarn passierte, ohne dass wir das dann direkt übernehmen konnten. Aber Ideen, Anregungen gab es viele, Dinge, die man sich anverwandeln konnte, um sie dann als Historiker zu benutzen. Historikern geht es eben immer irgendwo um Wandel in der Zeit, um Vorher und Nachher.
Als Sie dann hier angefangen haben Anfang 2001, wie wurden Sie da empfangen von den Sozialwissenschaftlern? Wurde das anerkannt, dass es da Anknüpfungspunkte gibt, dass Sie gesprächsfähig sind sozusagen, oder gab es auch Vorbehalte?
Das war eine freundliche Aufnahme insgesamt. Manchmal vielleicht Verwunderung darüber, warum ich mir das antue, aber nicht wirklich geringschätziges Misstrauen. Natürlich hatte ich viel zu lernen. Ich habe mich zunächst mal sehr intensiv mit jeder Abteilung und jeder Forschungsgruppe beschäftigt, ich habe sie besucht, viel gelesen. Es blieb immer eine Anstrengung, ein fundiertes Urteil über die allgemeinen Aspekte einer Forschungsrichtung zu gewinnen, die nicht die eigene war, die aber hier im WZB entweder betrieben wurde oder betrieben werden sollte, aber in gewisser Weise trifft das für jeden Präsidenten zu. Keiner von uns ist Universalwissenschaftler, sondern in einer bestimmten Disziplin ausgebildet und sozialisiert, und da muss ich sagen: Die Geschichtswissenschaft ist gar nicht so schlecht. Sie ist eine relativ ökumenische Disziplin, die sich nicht darauf versteift, ihre Grenzen scharf zu ziehen, die selbstbewusst, aber offen guckt: Wo kann sie etwas finden, das ihr hilft, besser zu forschen und besser darzustellen? Historiker sind in vieler Hinsicht Amateure. Wenn wir die Geschichte einer Periode deutscher Geschichte, sagen wir von 1870 bis 1914, schreiben, müssen wir etwas über die wirtschaftliche Entwicklung, über die sozialen Verhältnisse, die Politik und die Kultur und die Medien und das Recht sagen, ohne Ökonomen, Rechtswissenschaftler, Soziologen geworden zu sein. Diese Ausdifferenzierung zwischen den Sozialwissenschaften in Ökonomie, Soziologie, Politikwissenschaft usw. hat die Geschichtswissenschaft in sich nicht mit vollzogen, sondern sie bleibt integral. Von daher sind Historiker, manche jedenfalls, gut in der Lage und daran interessiert, über die Grenzen ihres Faches hinauszuschauen. Dazu hatte ich jetzt eine Gelegenheit, und das reizte mich sehr.
Aber Sie waren dann konfrontiert mit einer Art von Wissenschaft, die oft sehr kleinteilig ist und sehr auf einzelne Probleme und sogar einzelne Datensätze bezogen forscht. Ist Ihnen das nicht manchmal schwer gefallen mit dem weiten Blick eines Historikers, mit dieser Art von Forschung konfrontiert zu sein?
Ich habe zunächst schon in den 1990er Jahren und dann in meiner Zeit als Präsident sehr viel Hochachtung gehabt, und die hat sich verstärkt: vor der Genauigkeit, vor der Gründlichkeit, damit auch häufig Spezialisierung der Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen, die hier im Haus arbeiteten. Diesen Eindruck habe ich weiterhin. Man weiß, dass zum Betreiben gründlicher Wissenschaft Spezialisierung gehört; Hansdampf in allen Gassen können und wollen wir alle nicht sein. Dafür steht das WZB als eine Forschungseinrichtung, die Grundlagenforschung, häufig sehr spezialisierte Grundlagenforschung zu leisten in der Lage ist mit einem längeren Atem, als das etwa in den Universitäten möglich ist. Aber auf der anderen Seite war es eines meiner Ziele, diese beeindruckende Substanz der Forschungseinrichtung WZB ein wenig in eine Richtung weiterzuentwickeln, dass man gegenseitig mehr voneinander zur Kenntnis nahm, dass man Synergieeffekte noch stärker herausholt. Die Relativierung allzu weit getriebener Spezialisierung war ein großes Ziel. Zum andern war und bin ich überzeugt, dass Sozialwissenschaften sehr viel auch über den akademischen Bereich hinaus wirken können und sollen, und auch in diesem Punkt dachte ich, dass das WZB noch besser werden könnte. Beide Dinge, Synergie und interdisziplinäres Gespräch auf der einen Seite, Erfüllung gegenüber den Fragen und Bedürfnissen der Öffentlichkeit auf der anderen, waren Tendenzen, die ich stärken wollte.
Sie haben damals gesagt, Sie wollten das WZB theoretischer machen und damit auch sprechfähiger. Wie geht das zusammen?
Wenn ich das formuliert haben sollte, dann habe ich sicher an zweierlei gedacht. Einerseits durch die Diskussion übergreifender Fragen, die auf Theorien Bezug haben, – Modernisierung, Transnationalisierung, Entwicklung der Ungleichheit – dazu beizutragen, die primär empirische Forschung in größere Zusammen- hänge zu stellen und damit theoretischer, weniger selbstgenügsam zu machen, auch anschlussfähiger. Zum anderen war es schon damals meine Überzeugung, dass Wissenschaftler, Sozial- und Geisteswissenschaftler allemal, nicht nur die Produzenten hoch spezialisierten Wissens sein sollten, sondern auch Verantwortung dafür haben, was die Weitergabe dieses Wissens in die unterschiedlichsten Bereiche hinein angeht. Wir alle sind keine Medienprofessionelle, die meisten von uns sind auch keine Bestsellerautoren und verfügen nicht über die stilistischen Fähigkeiten, die man dazu braucht. Aber sich doch darum zu kümmern, dass die eigenen Erkenntnisse in den Medien bei interessierten Gruppen zur Geltung kommen, das gehört mit zur Aufgabe der Wissensproduzenten. In diesem Sinne hoffte ich, dass das WZB noch sprechfähiger werden würde, ohne damit zu sagen, dass es das vorher überhaupt nicht war.
Da sind wir ja auch bei der berühmten Formel von der problemorientierten Grundlagenforschung. Wie übersetzen Sie die?
Grundlagenforschung eindeutig in dem Sinne, dass wir keine Auftrags- oder im engeren Sinne angewandte Forschung hier betreiben wollten und wollen, Grundlagenforschung auch in dem Sinn, dass es in der Hand der Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen liegt, welche Fragen mit welchen Theoriebezügen und welchen Schwerpunkten verfolgt werden sollen, Autonomie also groß geschrieben. Problemorientierte Grundlagenforschung, das Adjektiv soll andeuten, dass dieses WZB schon dafür gegründet worden war und sich auch in dieser Rolle sah, sozialwissenschaftliche Forschung mit Bezug auf drängende Fragen der Zeit zu betreiben und dabei Dinge aufzunehmen, die um uns herum geschehen, und Wissen zu produzieren, das nützlich ist zur Lösung gegenwärtiger Probleme. So erklärt sich auch der permanente Wandel in dieser Institution, denn die Zeiten ändern sich. In meiner Zeit haben wir beispielsweise Zivilgesellschaft zu einem großen Thema innerhalb des WZB gemacht – was es vorher so nicht gewesen war. Wir haben Governance als neues Thema etabliert und dabei die Rechtswissenschaften hereingeholt, und wir haben schließlich das Thema Migration zu einem Schwerpunkt gemacht. Damit haben wir Großprobleme aufgenommen, die auch außerhalb des WZB in der Praxis diskutiert wurden, in diesem Sinne problemorientierte Grundlagenforschung.
Ist das eigentlich auch ein Unterschied zu Ihrer Ursprungsdisziplin, zu den Geschichtswissenschaften? Die sind doch nicht so direkt anwendungsproblemorientiert.
Nein, das ist kein großer Unterschied. Auch die Fragestellungen der Historiker ändern sich sehr stark mit der Zeit, in der sie arbeiten, und der Öffentlichkeitsbezug von Historikern ist sogar besonders ausgeprägt. Ein großer Teil historischer Forschung geschieht abgewandt von der Öffentlichkeit in Archiven, in Bibliotheken, zu Hause, mit langem Atem, asketisch, aber gleichwohl ist die Geschichtswissenschaft eine Antwort auf drängende Fragen der jeweiligen Zeit, der jeweiligen Gesellschaft, die sich daran erinnern will, woher sie kommt, um vielleicht besser entscheiden zu können, wohin sie will. Sonst wären wir keine solche Massendisziplin und nicht in den Schulen als Fach vertreten.
Ich habe versucht mir vorzustellen, wie das für Sie war als Historiker und mit Ihrem Hintergrund, in dieses Gebäude zu kommen. Sie haben sich viel mit dem 19. Jahrhundert beschäftigt. Sie verbinden sicher noch ein ganzes Stück mehr an Hintergrund mit dem Haus als viele andere, die hier tätig sind?
Also ich war begeistert und bin begeistert über dieses Gebäude. Es war der wichtigste Ort, die Headquarters des entstehenden deutschen Sozialstaats im späten 19. und im frühen 20. Jahrhundert. Hier saß dann die Reichsversicherungsanstalt und damit so etwas wie die Ansätze zu einem Reichssozialgericht, und die Bismarckschen Sozialversicherungen wurden Anfang des 20. Jahrhunderts zusammengeführt und hier aus diesem wilhelminischen Gebäude heraus koordiniert. Das aber dann in diesem spannenden Gegensatz zur postmodernen Architektur eines James Stirling in einem merkwürdigen, aber wie ich finde hoch attraktiven Stil zusammengeführt, das hat mich immer sehr beeindruckt. Vielleicht war das sogar ein zusätzliches kleines Motiv dafür, dass ich mich bemüht habe, nicht nur die rechtswissenschaftliche Dimension, sondern auch die historische Dimension stärker zu verankern. Ich bin fest davon überzeugt, dass auch Soziologen und Ökonomen und Politikwissenschaftler nur besser werden können, wenn sie sich dafür interessieren, dass die Gegenstände, die sie untersuchen, in historischem Wandel stehen, dass es ein Vorher und Nachher gibt. Ich habe versucht, diese historische Blickweise zu empfehlen, so wie ich umgekehrt davon überzeugt bin, dass Historiker besser werden können, wenn sie sich der Begrifflichkeiten und der Methoden ihrer Nachbarn bedienen. Ein Stück weit sind wir in diese Richtung gegangen, insbesondere in der von mir zeitweise geleiteten Forschungsgruppe über Zivilgesellschaft und soziale Bewegungen, aber das hat dann auch nur begrenzt reüssiert. Die große Rückverschmelzung von Geschichts- und Sozialwissenschaften ist in diesen sieben Jahren im WZB nicht gelungen, und nach meinem Weggang erst recht nicht.
Rückverschmelzung deswegen, weil es mal einen gemeinsamen Ursprung gegeben hat?
Richtig, weil im 19. Jahrhundert zwischen Geschichts- und Staatswissenschaften, man hat noch nicht so sehr von Sozialwissenschaften gesprochen, eine Ausdifferenzierung stattgefunden hat, an der auch absolut festzuhalten ist. Doch können wir auf einer Stufe der Ausdifferenziertheit wieder neu fragen, wie Zusammenarbeit über Fächergrenzen hinweg geschieht. Sie geschieht ja immer wieder, an vielen Stellen in unserer Wissenschaftslandschaft und sicherlich auch im WZB, wo ja immer Angehörige verschiedener Disziplinen existiert haben, und zwar seit den 89er Jahren unter einem Dach. Ich dachte, dass das WZB aus dieser Tatsache, dass unterschiedliche Disziplinen unter einem Dach existieren, und zwar durch Vertreter meist ausgezeichneter Qualität, noch mehr machen könnte durch mehr innere Kommunikation, durch kluge Strukturierung und durch gemeinsame Anstrengungen auch gegenüber der Öffentlichkeit.
In den Geschichtswissenschaften sind ja die Konjunkturen auch weitergegangen. Die Sozialgeschichte war ab den 1980er und 90er Jahren nicht mehr die beliebteste Form der Geschichtswissenschaft, es haben sich vielmehr, wenn ich das richtig sehe, die Sozialwissenschaften und die Geschichte wieder mehr auseinander entwickelt. Da könnte man vermuten, dass Sie als Sozialhistoriker ein Stück weit Asyl im WZB gefunden haben.
Das ist ein sehr interessanter Gedanke. In der Tat hat seit den späten 80ern eine gewisse, Abwendung ist zu stark, aber doch relative Abwendung von diesen historisch sozialwissenschaftlichen Fragestellungen innerhalb der Geschichtswissenschaft stattgefunden. Jetzt sind eher kulturgeschichtliche Fragen, begriffsgeschichtliche Untersuchungen nach vorne getreten. Von daher hat sich auch von der Geschichtswissenschaft her die Distanz zwischen Geschichtswissenschaft und Sozialwissenschaften wieder ein Stück vergrößert. Übrigens gibt es in allerletzter Zeit Gegentendenzen: Die Krisen des Kapitalismus, die wir viel diskutieren, die zunehmende Ungleichheit in unseren Gesellschaften, die viel diskutiert wird, vielleicht auch die Auswirkungen der Globalisierung und damit der Aufstieg der Global History in der Geschichtswissenschaft, all das zusammen wirkt darauf hin, dass es wieder stärkeres Interesse an sozialwissenschaftlichen Zugriffen und an sozial- und wirtschaftsgeschichtlichen Themen gibt. Ich würde nicht sagen, dass ich Asyl im WZB gewinnen musste im ersten Jahrzehnt nach der Jahrhundertwende, aber in der Tat gab es ein intellektuelles Umfeld, in dem der Aufstieg der Sozialgeschichte, der historischen Sozialwissenschaft nicht mehr so fortgesetzt wurde wie in den Jahrzehnten zuvor.
Wenn wir schon bei der Jahrhundertwende sind: Sie sind ja tatsächlich der erste Präsident des neuen Jahrtausends gewesen. Was haben Sie vorgefunden? Wie hat sich das Haus in den sieben Jahren verändert? Es ist ja manchmal zu lesen: Das war noch so die Wissenschaft der 80er und 90er Jahre, da musste sich dringend was ändern … Tatsächlich gab es einen großen Umbruch auch rein altersbedingt durch das Ausscheiden von vielen Personen.
Das WZB, das ich vorfand, war eine wissenschaftliche Institution in sehr guter Form und mit ungemein viel geglückter Substanz. Klar, sie musste weiterentwickelt werden. Das lag auch daran, dass eine Reihe von Leitungspersonen weggingen, meistens weil sie die Altersgrenze erreichten, und damit die Chance und die Notwendigkeit bestanden, neue Direktoren und neue Leitungsprofessoren zu gewinnen. Zweitens lag die Notwendigkeit des Wandels eben an den sich verändernden Verhältnissen, in denen Sozialwissenschaft stattfindet. Und drittens gab es Stellen, die verbesserungsfähig waren. Es gab etwa 17 oder 18 Abteilungen und Forschungsgruppen, als ich kam, und ungefähr genauso viele, als ich ging im Jahr 2007, aber nur zwei oder drei der Forschungsabteilungen und Forschungsgruppen, die im Jahr 2001 bestanden hatten, hatten 2007 noch genau denselben Zuschnitt und dieselbe Leitung wie sieben Jahre zuvor. Das zeigt Ihnen etwas von dem Wandel. Die Abteilungen wurden teilweise inhaltlich verändert. Wir haben z. B. Umweltforschung nicht fortführen können, haben dafür aber Migrationen begonnen zu untersuchen, zum Teil mit starker Unterstützung des zuständigen Bundesministeriums. Wir haben auch neue Forschungsprofessoren gewinnen können, Ralf Dahrendorf kam – darauf war ich besonders stolz, dass es mir gelang, ihn zu holen. John Keane war ein anderer, Folke Schuppert, der Rechtswissenschaftler, kam als Forschungsprofessor. Die Forschungsprofessoren hatten immer auch die Funktion, jedenfalls erhofften wir uns das von der Leitung des WZB her, quer zu den Abteilungen über die Abteilungsgrenzen hinweg zu wirken und damit Synergieeffekte zu erzielen. Wir haben auch nach sehr vielen Diskussionen eine klarere Struktur im WZB insgesamt eingeführt, indem vier große Felder gebildet wurden, in denen die jeweils zugehörigen Abteilungen ein wenig enger zusammenarbeiteten als allgemein. Also, es gab viele Chancen und viele sinnvolle Notwendigkeiten zum Wandel, aber es wurde nicht wirklich ein anderes WZB.
Sie haben ja schon erwähnt, dass sie auf die Leitungsfunktion nicht unbedingt vorbereitet waren. Mich würde interessieren, wie Sie sich als Präsidenten aufgefasst haben, wie Sie dieses Amt verstanden haben. Gab es so was wie einen Führungsstil, den Sie für sich in Anspruch nehmen würden?
Ich hatte ein Modell, das hatte ich im Wissenschaftskolleg kennengelernt, und ich weiß auch, dass es ähnlich in der Maison des Sciences de l‘Homme in Paris praktiziert wurde: Der Rektor im Fall des Wissenschaftskollegs oder der Präsident im Fall der Maison des Sciences de l‘Homme konnten sich sehr stark auf die inhaltlichen, auf die wissenschaftlichen und auf die grundsätzlichen Fragen konzentrieren, auch auf die Kontakte zur Öffentlichkeit und zu anderen Institutionen. Die Entscheidungen über viele praktische und auch finanzielle Dinge werden jeweils von einer anderen Person, die damit auch große Bedeutung hat, geleistet. Ich habe in diese Richtung gestrebt und auch weitgehend erfolgreich, denn zuerst Frau Neumann und dann Herr Baßler haben eine sehr starke Rolle in der Leitung dieser Institution gespielt. Ich habe also versucht, meine Leitungsarbeit zu begrenzen. Ich habe auch immer vorgehabt – und das nicht ohne Erfolg –, weiterhin Wissenschaftler zu sein. Die Präsidenten des WZB sind gleichzeitig Professoren und Professorinnen an einer Berliner Universität. Das zeigt schon, dass es auch aus der Institution gewünscht wird, dass Leitungspersonen sich weiter wissenschaftlich betätigen. Ich bin sogar einmal einige Monate in Oxford gewesen, um eine Forschungsarbeit fortzusetzen, und das Kuratorium
hat das toleriert. Ich habe also immer versucht, nicht zur hundert Prozent professionalisierten Leitungsfunktion zu werden, und in der Rückschau gehört das auch zu den erfreulichsten Ergebnissen dieser Jahre. Ich habe hoffentlich nicht nur etwas für die Institution tun können, ich habe auch, was meine eigene intellektuelle Entwicklung angeht, von diesen Jahren sehr profitiert. Ich habe verstärkt einen Sinn für die Durchsetzbarkeit von Ideen und für die Grenzen der Durchsetzbarkeit erworben. Ich habe mich am Ende als Historiker bestätigt gefunden. Soviel ich bewundern konnte und geschätzt habe, was die Kolleginnen und Kollegen in der Soziologie, in der Ökonomie, in der Politikwissenschaft, in anderen Fächern hier im Haus taten, so sehr war ich von den historischen Herangehensweisen, die ich gelernt hatte, überzeugt – am Ende dieser sieben Jahre eher noch mehr als zuvor.
So dass Sie dann auch mit einer gewissen Erleichterung hier das Amt wieder weitergereicht haben?
Erleichterung vor allem in dem Sinne, dass ich eben nie aufgehört hatte, wissenschaftliche Pläne vor mir zu haben, und die sind natürlich in diesen Jahren stark zurückgetreten und zum Teil auf der Strecke geblieben. Ich hatte mir vorgenommen, die Zahl der Jahre für die Leitung einer solchen Institution, die ich sehr gerne geleitet habe, zu begrenzen, um dann noch mal eine Phase zu haben, in der ich wieder mehr als Historiker existieren würde: etwas mehr Unterricht, was ich gemacht habe, in den USA, vor allem in den letzten Jahren, mehr Lesen und Schreiben, und in der Tat, ich habe veröffentlicht und bin dabei, im nächsten und im übernächsten Jahr wiederum geschichtswissenschaftliche Arbeiten zu veröffentlichen. Erleichterung also im Blick auf die Möglichkeit, diese Kerndimension meiner beruflichen Existenz wieder stärker betreiben zu können. Erleichterung nicht in dem Sinne, dass ich froh gewesen wäre, dieses Haus loszuwerden. Ich habe im Gegenteil eine gewisse Identität mit diesem WZB entwickelt und freue mich auch jetzt als Alumnus, ab und zu hier aufzutauchen und auch dem zum Glück neu belebten Kreis der Freunde anzugehören.
Hat sich denn Ihre Perspektive, Ihre Arbeit als Historiker deutlich verändert durch die Zeit hier?
Was ich vor allen Dingen besser verstehe als früher, sind die nichtwissenschaftlichen Zusammenhänge, in denen Wissenschaft betrieben wird. Anders ausgedrückt: Die institutionellen und praktischen Bedingungen und Folgen von Wissenschaft sind mir deutlicher geworden. Ich bin besser in der Lage zu historisieren – in dem Sinne, dass ich das, was wir als Wissenschaftler tun, jetzt sehr viel mehr als Teil eines komplexen Kontextes begreifen kann, zu dem Institutionen, Finanzen, Streit, Interessen, Konflikte gehören, etwas, was man als Wissenschaftler, der sich ganz und gar auf die eigene fachwissenschaftliche Spezialisierung konzentriert, so gar nicht mitbekommt. Von daher denke ich, dass ich auch ein besserer Historiker geworden bin, denn diese Art der Historisierung gehört im Kern zu der Sichtweise auf Wirklichkeit dazu, die wir als Historiker haben sollen. Daher bin ich nicht der Meinung, dass das ein Umweg gewesen ist oder eine verlorene Zeit, ganz und gar nicht, auch nicht für meine intellektuelle und wissenschaftliche Entwicklung.
Das sind jetzt schon fast Schlussworte, aber ein Stichwort möchte ich doch noch ansprechen, weil es mir auch wichtig für Sie und Ihre Herangehensweise zu sein scheint. Das ist die Frage nach dem Internationalen, oder ich glaube, Sie sagen lieber Transnationalen. Wie sehen Sie im Hinblick darauf die Arbeit am WZB? Der internationale Vergleich gehörte ja schon immer dazu.
Richtig, das gehörte zu den Markenzeichen des WZB über die Jahrzehnte hinweg, und so ist es wohl auch geblieben: die Bereitschaft, unter den gewählten Fragestellungen breit zu vergleichen und Veränderungen und Verhältnisse in verschiedenen nationalen Gesellschaften auf Ähnlichkeiten und Unterschiede hin zu untersuchen. Aber zu der internationalen oder auch transnationalen Dimension gehört mehr, nämlich das Interesse für Prozesse, die sich über Grenzen hinweg durchsetzen, das Interesse an Einflüssen über Grenzen hinweg, das Interesse an grenzüberschreitenden Prozessen wie Migrationen oder den Transfer von Wissen oder gegenseitige Beobachtung oder die internationale Politik. Das Bedürfnis, die internationalen und transnationalen Dimensionen zu betonen, wurde natürlich in den 90er Jahren und im ersten Jahrzehnt dieses Jahrhunderts stärker aufgrund der rasch fortschreitenden Globalisierung. Wir haben ein Stück weit darauf reagieren können, beispielsweise ist in der Demokratie- und Politikforschung durch Michael Zürn, der Direktor einer Abteilung wurde, sehr deutlich die internationale Politik hereingeholt worden durch Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, und ich habe sehr viel Glück gehabt, was die Zusammenarbeit mit Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter angeht. Dagmar Simon, Georg Thurn würde ich vor allen Dingen nennen, die Unterstützung durch Wolfgang van den Daele nicht zu vergessen. Durch Mitarbeiter wie Georg Thurn ist die internationale Kooperation stark vorangebracht worden – mit Polen, mit Israel, mit England, mit der London School of Economics, mit Oxford, mit Paris, aber doch blieb diese Tendenz begrenzt. Vor allem hat das WZB in meiner Zeit noch nicht nichtwestliche Teile der Welt zu seinem Gegenstand gemacht. Darüber haben wir viel diskutiert, aber das wurde eigentlich noch nicht erreicht. Ich sehe allerdings mit Genugtuung, dass das WZB in den letzten Jahren hier deutliche Fortschritte gemacht hat. Also es war nie eine rein deutsche Institution, über Beirat, über viele Kooperationsbeziehungen, durch viele Gäste und natürlich auch durch viele Forschungsaufenthalte unserer Wissenschaftler im Ausland hat es sehr viel internationale Verflechtung gegeben. Am Ende wissen wir doch: Wissenschaft ist ein transnationales Phänomen. Die Geltung, die unsere Ergebnisse haben sollen, hält nicht an der nächsten nationalen Grenze an, sondern sie will auch in anderen Systemen und Kulturen gelten. Diesen kosmopolitischen, transnationalen Anspruch der Wissenschaft festzuhalten, ist wichtig im Interesse guter Wissenschaft, aber auch im Interesse an dem, was Wissenschaft tun kann, um praktische Veränderungen friedlicher Art in dieser sich zunehmend ver echtenden Welt mit zu befördern.
Zum Porträt
Das Bild ist von einer Freundin gemalt worden, die mich seit vielen Jahrzehnten kennt, und die dann auch selber entschieden hat, wie dieses Bild aussehen sollte. Ich finde es ein bisschen groß geraten, andererseits finde ich es gut, dass es mich als einen diskursiven Menschen zeigt, jemanden, der redet, und auch mit Gesten redet. Auch begrüße ich, dass es ein bisschen bunt geraten ist und mich nicht als graue Maus darstellt.
Aber die Farben sind ja schon mutig, also sehr expressiv.
Mutig kann man auch dazu sagen. Nun ist es so, und ich denke, akzeptabel. Klar, dass eine Malerin den eigenen Blick zum Kriterium macht. Ich würde mich wohl, wenn ich selber malen könnte, etwas anders malen.
Sind Sie denn Modell gesessen?
Nein, die Malerin hat das hauptsächlich nach Fotos gemacht, aber sie kennt mich auch ganz gut.
Und dann haben Sie es gesehen, als es fertig war, oder haben Sie den Prozess auch mitbekommen?
Nein, ich habe es gesehen, als es fertig war, und es gab zwei Varianten. Das WZB konnte eins von zweien auswählen, und das andere ist in einem Museum gelandet. Es war also ein Prozess, der von mir nicht bis in alle Einzelheiten gesteuert werden konnte. Und nun sieht man, jedes dieser Präsidentenbilder sieht etwas anders aus. Mal gucken, wie es aussehen wird, wenn meine Nachfolgerin einmal an die Wand kommt.